Neue Realität(en)?

18.11.2019 Oliver Kottmann

© BOK+Gärtner GmbH

Ein Highlight der Wanderausstellung Sehnsucht in die Ferne - Reisen mit Annette von Droste-Hülshoff, die vom Leben und Wirken der Schriftstellerin erzählt, ist der „Ich-Ort der Poesie“.1 Hier können sich die Besucher:innen mit all ihren Sinnen auf das Gedicht „Im Grase“ einlassen. Durch eine Virtual Reality-Brille tauchen sie dabei in ein fast surreales Universum aus Text, Klang, Farbe und Form und erleben Lyrik so auf bisher unbekannte Weise. Ergänzt wird das virtuelle Erlebnis durch einen realen sensorischen Reiz: Platziert in einem Schaukelstuhl, mit der VR-Brille auf der Nase fühlt es sich fast so an, also würde man auf den Schwingen der Poesie durch den virtuellen Raum getragen…

 

Virtual Reality: Was ist das eigentlich?

Die virtuelle Realität (auch „Virtual Reality" oder VR) versteht man die Abbildung einer künstlichen Wirklichkeit. Sie bildet ein Ende des folgenden Realitätenspektrums:

© Giovanni Vincenti, CC by 3.0

Am anderen Ende dieses Spektrums steht die reine, physische, unverfälschte Realität, die allein aus realen Objekten besteht. Zwischen den beiden Polen liegt das Kontinuum der gemischten Realitäten oder „Mixed Realities“.

Am „Ich-Ort der Poesie“ wird die Bewegung der Nutzer:innen auf die virtuelle Umgebung übertragen und hat damit Einfluss auf das virtuelle Gesamterlebnis. Möglich wird diese Art der Anwendung durch eine VR-Brille, die die Besucher:innen aufsetzen, um das natürliche Sehfeld durch ein digitales zu ersetzen. Bei diesen VR-Brillen, die aktuell noch für das Eintauchen in die virtuelle Realität von Nöten sind, gibt es große Unterschiede. Einerseits bietet der Markt einfache Modelle aus Pappe oder Plastik, sogenannte Cardboards, die lediglich als Halterung für einen externen Bildschirm – den des Tablets oder eines Mobiltelefons – fungieren. Im Gegensatz dazu stellen Firmen wie Occulus Systeme mit fest eingebautem Screen und sogar Kopfhörern zur Verfügung. In beiden Fällen wird ein Bildschirm als einzige Wahrnehmungsquelle vor den Augen positioniert, sodass dem Gehirn vorgetäuscht wird, dass dies die visuelle und mithilfe von Kopfhörern auch die auditive Realität sei.

Christoph Steinweg © BOK + Gärtner GmbH

Neben der Droste-Forschungsstelle und ihren Kooperationspartner:innen hat auch die LWL-Altertumskommission in diesem Jahr die Möglichkeiten der virtuellen Realität für sich entdeckt. In Zusammenarbeit mit der Hochschule Bremen entstand die virtuelle Rekonstruktion eines Megalithgrabes im westfälischen Westerkappeln. Die Anwendung ermöglicht es, ein mehrere Jahrtausende altes Grab virtuell zu besichtigen, die Stätte aus jedem Winkel zu betrachten und so selbst auf den Spuren dieses antiken Ortes zu wandeln.2

Auch in der Wanderausstellung Apokalypse Münsterland 3, die aktuell durch die Region tourt, kommt VR-Technik zum Einsatz: Exponate wurden per 3D-Druck digitalisiert und anschließend in einer Container-Ausstellung präsentiert. So werden sie in dem fiktiven Szenario vor einer Apokalypse bewahrt mehr dazu erfahren Sie auch hier auf unserem Blog.


Augmented Reality

Die gemischten Realitäten unterscheiden sich untereinander vor allem nach dem Grad der Immersion, den sie ermöglichen. Der Begriff Immersion kennzeichnet dabei den Effekt der perfekten Illusion, der es den Nutzer:innen leichtmacht, ihre Gedankenwelt gänzlich in die virtuelle Projektion zu vertiefen.

Eine Form der gemischten Realität ist die erweiterte Realität ("Augmented Reality" oder AR). Von ihr spricht man immer dann, wenn eine Realität durch virtuelle Objekten angereichert wird. In AR-Anwendungen agieren die Nutzer:innen zwar in der realen Umgebung, können diese jedoch durch unterschiedliche virtuelle Zugaben ausweiten. Dazu wird die Umgebung durch die Kamera eines Handys, Tablets oder anderen Endgerätes betrachtet und die Darstellung dann digital ergänzt. Zu diesen digitalen Ergänzungen können Töne und Bilder, ebenso wie Personen, Objekte, Texte und Filme gehören. Verdeutlichen wir das Ganze durch zwei Beispiele:

Vincent Stefan © BetaRoom

Stellen Sie sich vor, Sie spazieren morgen durch Berlin und Ihr Smartphone wird zu einer kleinen Zeitmaschine, die es Ihnen erlaubt, über 30 Jahre zurück in die Vergangenheit zu reisen. An einer beliebigen Stelle richten Sie Ihr Gerät auf den knapp 160 km langen Streckenabschnitt, an dem bis 1989 die Berliner Mauer stand… und plötzlich ist sie wieder da: Mitten in Berlin des Jahres 2019, grau und massiv. Durch die Linse des Smartphones ragen die hohen Betonblöcke an den Originalschauplätzen in den Himmel. Und auf dem Bildschirm erscheinen zusätzlich weitere historische Fotografien und kurze, erklärende Texte.4 Die Idee zu dieser Anwendung entstand 2017 im Rahmen des Kultur-Hackathons "Coding da Vinci" als Kooperationsprojekt zwischen der Stiftung Berliner Mauer als Datengeber und einem Team kreativer Köpfe aus dem Bereich der Softwareentwicklung für die Idee und Umsetzung.

Julius Krenz © WDR

Auch aus der regionalen Kulturvermittlung sind AR-Angebote heute kaum mehr wegzudenken. Wegweisend ist hier unter anderem das Projekt WDR AR 1933-1945, mit dem Zeitzeugen direkt in den Klassen- oder Museumsraum projiziert werden können. Auf einem Sessel sitzend erzählen sie über Ihre Erlebnisse in der NS-Zeit, über Krieg, Angst, Hoffnung und Solidarität, ohne dabei wirklich anwesend zu sein. Das zuvor aufgenommene Interview wird mittelbar  durch die Kamera des Smartphones oder Tablets betrachtet  in die Realität eingeblendet und verschmilzt so mit ihr.5

Im Gegensatz zu Augmented Reality findet die erweiterte Virtualität ( auch "Augmented Virtuality" oder AV) in der Kulturvermittlung aktuell noch wenig Einsatz. Die Anreicherung einer virtuellen Umgebung um reale physikalische Element wird unter anderem im Gaming-Bereich genutzt, um reale Spieler in virtuelle Welten einzublenden.

 

Neue Realitäten: (finanzieller) Fluch oder (didaktischer) Segen?

Speziell für den Bildungsbereich bietet der Markt bereits einige kostenfreie Apps, mit denen sich einfache VR und AR-Anwendungen selbst entwickeln lassen.6 Diese eigenen sich jedoch eher, um einen Eindruck von den "neuen" Technologie zu gewinnen und erste eigene Experimente zu wagen. Eine wirklich Alternative zu professionell entwickelten Anwendungen für den Kulturbereich bieten sie hingegen (noch) nicht.

Für anspruchsvollere Projekte ist daher die Zusammenarbeit mit entsprechen Expert:innen unverzichtbar. Damit entstehen Kosten, die sich durch den etwaigen Ausbau der digitalen Infrastruktur vor Ort und die Anschaffung der geeigneten Hardware noch einmal erhöhen können. Doch auch hier gilt es zu differenzieren: Während die Cardboards für Handys in der Anschaffung sehr günstig sind, kosten professionelle Systeme wie das der Firma Occulus etwa 500€, je nach Ausstattung und unter der Voraussetzung eines geeigneten Computers.

Letztlich stellt sich wie immer die Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Eine Auseinandersetzung mit VR und AR-Anwendungen in der Kulturarbeit lohnt sich aber in jedem Fall. Denn sinnvoll eingesetzt können die spannenden Formate nicht nur zur Erschließung neuer Zielgruppen beitragen, sie schaffen für alle Besuche:innen einen Perspektivwechsel und damit einen Mehrwert, indem sie Erfahrungen ermöglichen, die sonst ausblieben: Die Übersetzung von Poesie in audiovisuelle Klangwelten, die Reise zu fernen Orten und deren verwunschenen Kultstätten und den Kontakt mit aussterbenden Zeug:innen längst vergangener Zeiten. 

 

 

 


1 Die Homepage zur Ausstellung "Sehnsucht in die Ferne" finden Sie hier. Realisiert wurde sie durch das Team von Bok + Gärtner/DBCO.

2 Das Megalith-Projekt können Sie auch online ansehen und die Grabstätte besuchen.

3 Zur Projekt-Homepage gelangen Sie hier.

4 Berliner MauAR ist ein Projekt, das im Rahmen von Coding da Vinci 2017 entstanden ist. Die Anwendung ist im App-Store von Apple verfügbar und weitere Einblicke erhalten Sie in diesem Video: Youtube (abgerufen am 26.7.19).

5 Die Seite des Projekts WDR AR 1933-1945 finden Sie hier.

6 Eine schöne Übersicht über AR-Apps für den Bildungsbereich bietet dieses Video.