Das Museum im Postkolonialen Diskurs

21.07.2021 Katharina Hauck

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Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.1

Das vorangehende Zitat des Philosophen Walter Benjamin entstand im Jahr 1940 als dieser sich mit der Geschichtsschreibung und dem Umgang mit Gütern aus kolonialen Kontexten in den westlichen Gesellschaften auseinandersetzte. Er kritisierte, dass sich in der Geschichtsschreibung stets die Perspektive der mächtigen Staaten durchsetze, in jedem Kulturobjekt aber weitere Perspektiven stecken, die oft von Barbarei und einer Geschichte der Gewalt gekennzeichnet sind: „Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnete sie als Kulturgüter.“2 Diese Perspektive auf Kulturgüter, als Objekte mit einer vielfältigen Geschichte rückt gegenwärtig immer mehr in den gesellschaftlichen Fokus und sammelt sich im postkolonialen Diskurs. Dieser betrifft in besonderem Maße Institutionen und gesellschaftliche Räume, welche sich mit einer kolonialen Vergangenheit konfrontiert sehen und ist mittlerweile geprägt von diversen Ansätzen und Strategien für eine Aufarbeitung der Geschichte. Denn Schätzungen zu Folge wird vermutet, dass sich „mehr als 80 Prozent des afrikanischen Kulturgutes in europäischen Sammlungen“befindet.

Kolonialismus – Dekolonisierung – Postkolonialität 
Die angesprochenen Diskurse der Dekolonisierung oder Postkolonialität bauen auf einer Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte auf, innerhalb welcher westeuropäische Staaten ihre Vormachtstellung gegenüber anderen Staaten im Zuge ländlicher Besetzung ausübten. Kolonialismus im Allgemeinen wird als „ein Herrschaftsverhältnis [aufgefasst], bei dem die kolonisierten Menschen in ihrer Selbstbestimmung beschränkt, fremdbestimmt und zur Anpassung an die (vor allem wirtschaftlichen und politischen) Bedürfnisse und Interessen der Kolonisierenden gezwungen werden.“4 Je nach Kolonialsituation waren die Strukturen vor Ort unterschiedlich ausgeprägt. Immer jedoch war die hegemoniale Stellung der Kolonialmächte Grundlage der Kolonisierungserscheinungen. Insgesamt umfasste der europäische Kolonialismus „mehr als 600 Jahre, die gesamte Welt“5. Postkoloniale Diskurse fassen nun den bereits vergangenen Prozess der Kolonisierung als auch Prozesse fortwährender Dekolonisierung und Rekolonisierung ins Auge. Ein Hauptgesichtspunkt ist hierbei die „kritische und differenzierte Auseinandersetzung mit Rollenbildern und Machtstrukturen, die ihren Ursprung im Kolonialismus haben.“6 Infolgedessen wird die Vielperspektivität von Kolonialismus in den Vordergrund gehoben und versucht den rein eurozentrische Blickwinkel von seiner Machtposition zu heben und daneben die Sichtweisen und Erfahrungen der kolonisierten Bevölkerungen aufzuzeigen. Dekoloniale und Postkoloniale Diskurse sind bereits im angloamerikanischen Raum weit verbreitet und wissenschaftlich etabliert, während diese im deutschen Raum erst seit kurzer Zeit eine größere Aufmerksamkeit erfahren.

 

 

Kulturinstitutionen als multiperspektivische Räume
Die gängigen geschichtlichen Narrative werden meist aus der Perspektive der mächtigen Staaten geschrieben, die sich als vorherrschend und hierarchisch übergeordnet begreifen. So auch diese der Kolonialzeit. Marginalisierte Blickwinkel oder solche der Verlierer:innen dieses Prozesses werden kaum miterzählt. Diese Strukturen sollen aufgebrochen werden, deshalb treten die folgenden Fragen in den Vordergrund:

Wer spricht für wen?
Welche Perspektiven fließen in die Interpretationen bestimmter Räume mit ein?
Und welche werden vollkommen ausgespart?

Auch Kulturinstitutionen hierzulande setzen sich mittlerweile immer tiefergehender mit Perspektivenvielfalt, kritischen Betrachtungen der gängigen Vermittlungsinhalte und der Heterogenität des Publikums auseinander. Ein wichtiger Schwerpunkt ist hierbei auch die Konfrontation mit der Geschichte des eigenen Hauses und seinem kolonialen Erbe innerhalb der Sammlungen. Mit kritischem Blick soll dabei die enge Verknüpfung deutscher Kulturinstitutionen und der Kolonialherrschaft betrachtet werden, denn „[l]ange wurde diese koloniale Vergangenheit verschwiegen oder auch relativiert“7 – meist durch das Herstellen einer Relation der länger andauernden Kolonialherrschaft anderer europäischer Staaten. Dass diese Epoche der Geschichte dennoch ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte und sich in bestimmten gesellschaftlichen Strukturen und Diskriminierungsformen wie strukturellem Rassismus festgesetzt hat, wird immer deutlicher zu Tage gefördert – die „Spuren [sind] in allen Bereichen von Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik“8 zu finden. Auch in den Sammlungen vieler Museen hat diese Zeit ihre Spuren hinterlassen und es finden sich „zahlreiche schriftliche Quellen, die Auskunft darüber geben, wie wer unter welchen Umständen diese Objekte erworben, getauscht, geraubt oder gestohlen hat.“9 Lange haben solche Gegenstände – ihrer Geschichte unbeachtet – in den Sammlungen geschlummert. Bei vielen Objekten aus kolonialen Kontexten ist der Hintergrund der Verwendung oder auch der genaue Herkunftsort unbekannt. Hier wird durch die Provenienzforschung versucht mehr über die Hintergründe bestimmter Sammlungsstücke herauszufinden und diese zu kontextualisieren.  Und viele Kulturhäuser starten auch Versuche einer kritischen Analyse der eigenen Institutsgeschichte sowie ein Infragestellen der traditionellen Vermittlung von Wissen.

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Verschiedene Ansätze dekolonialer Praxis im Museum
Für Kulturinstitutionen insbesondere Museen oder Ausstellungshäuser ist der postkoloniale Ansatz eine Herausforderung. Es besteht der Ruf „nach multiperspektivischen Ausstellungen, in denen sich widerspiegeln sollte, dass auch Museen Austragungsorte von Auseinandersetzungen um Repräsentationspraxen und Wissensformen sowie um Fragen des Zugangs sind“10. Dabei können verschiedene Strategien im Umgang mit der Geschichte und dem Museum als repräsentativen Raum verfolgt werden. Die Häuser können als Kontaktzonen11 aufgefasst werden, „um die interaktiven und improvisatorischen Dimensionen kolonialer Begegnungen herausstellen [...] [und] um gleichermaßen herrschende Blickwinkel wie auch die reduktionistische Binarität von Eroberung/ Enteignung“12 aufbrechen zu können. Im Zuge solcher Kontaktzonen verschiebt sich der Fokus von den Narrativen der dominanten Kultur auf die Beziehung zwischen den Kulturen und den Überschneidungen, die aus der geschichtlichen Begegnung resultierten und in einer Art Transkulturalität mündeten. Des Weiteren können Museen versuchen die dominanten Narrative aufzubrechen und so ein Umlernen bzw. Verlernen innerhalb der Gesellschaft voranzutreiben, in dem hegemoniale Strukturen innerhalb von Ausstellungen offengelegt werden. Gleichzeitig können dann diese Narrative erzählt werden, die bisher keinen Platz in der gängigen Geschichtsschreibung fanden und so eine Sichtbarkeit geschaffen werden. Solche Irritationen im Status Quo können langfristig die gängigen Repräsentationen verschieben und die dekoloniale Praxis vorantreiben. Im Museumskontext hat sich hier seit kurzem die ‚Kritische Weißforschung‘ etabliert, die das Ziel verfolgt Privilegien der weißen Mehrheitsgesellschaft hervorzuheben und somit strukturellen Rassismus aufzudecken bzw. neue Perspektiven einzubeziehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit Ausstellungskonzeptionen ist der Einbezug bzw. die Kollaboration mit Menschen, die diese Geschichte betrifft. Denn um Perspektivenvielfalt gewährleisten zu können, müssen die Stimmen mit einbezogen werden, die bislang marginalisiert wurden, statt von anderen Positionen für oder über diese zu sprechen.

Diese und viele weitere Ansätze können für sich stehend oder in Kombination das Museum revolutionieren. Viele Museen widmen sich bereits diesen Themen und konzipieren Ausstellungen dazu. Im Museum der Arbeit in Hamburg ist gegenwärtig beispielsweise noch bis zum 18.07.2021 die Ausstellung ‚Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand‘ zu sehen. Hierin setzt sich das Kurator:innenteam mit den kolonialen Handelsverstrickungen Hamburgs auseinander. Statt eine einfache Handelsgeschichte aus Sicht der Stadt Hamburg zu erzählen, die diverse Produkte aus Kolonialstaaten importierte, soll sichtbar gemacht werden, inwiefern Menschen in den Kolonien versklavt und zu Arbeit auf Plantagen gezwungen wurden. Andere Perspektiven sollen aufgezeigt werden. Neben der analogen Ausstellungsführung durch das Haus, wurden im Rahmenprogramm auch Online- oder Telefon-Führungen bzw. ein Workshop angeboten. Zusätzlich zur Ausstellung vor Ort initiierte das Museum auch vom 13.-16.06.2021 die Online-Tagung ‚Das postkoloniale Museum‘. In sechs Paneldiskussionen wurde über die Möglichkeit der Repräsentation postkolonialer Gegenwarten in Museen diskutiert. Auch das Lindenmuseum als Staatliches Museum der Völkerkunde in Stuttgart setzt sich 2019 mit der Thematik in der Ausstellung ‚Wo ist Afrika?‘ auseinander. Das Museum ließ die Besucher:innen einen Blick auf die Entstehung der eigenen Sammlung werfen und versuchte einen Raum für kritisches Hinterfragen von Erzählungen und der Deutungshoheit des Museums zu schaffen. Zugleich wurden Parallelerzählungen zu den Objekten präsentiert. Die Bildungsstätte Anne Frank widmete sich bis Februar 2021 in ihrer Ausstellung dem Thema ‚Hingucker? Kolonialismus & Rassismus ausstellen‘. Hier wird die Frage aufgeworfen, inwiefern sich Kolonialrassismus ausstellen lässt, ohne kolonial zu handeln und bestimmte Narrative und Strukturen zu reproduzieren. Neben dem analogen Ausstellungsbesuch war auch ein digitaler Zugang über die Website der Bildungsstätte möglich. Und auch im Historischen Museum Frankfurt konnten sich Besucher:innen bis März 2021 in der Ausstellung ‚Ich sehe was, was Du nicht siehst. Rassismus, Widerstand und Empowerment‘ mit der kolonialen Vergangenheit und der postkolonialen Gegenwart auseinandersetzen. In Kooperation mit von Rassismus betroffenen Menschen wurde im partizipativen Stadtlabor ein facettenreiches Format mit Podcastfolgen, Video-Interviews, Installationen & Co geschaffen.
 

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Ausblick
Die Schlussfolgerung des Philosophen Walter Benjamins auf seine Analysen über Geschichtsschreibung ist folgende: „Die Geschichte gegen den Strich [...] bürsten“13, damit diese multiperspektivisch erzählt werden kann. Das postkoloniale Museum besitzt das Potential sich in diese Tradition einzureihen und alte einseitige Narrative aufzubrechen. Es kann Stimmen in den Diskurs miteibeziehen, die bislang nicht gehört wurden, dadurch Sensibilität schaffen und das Museum in einen Ort verwandeln, an welchem sich jede:r gehört und gesehen fühlt.

 

 

1 Benjamin 1980, S. 696.

2 Ebd.

3 Hollenbach 2021. Dekolonisierung. Mission im Museum.

4 Deutscher Museumsbund e.V. 2021, S. 24.

5 Ebd., S. 96.

6 Deutscher Museumsbund e.V. 2021, S. 25.

7 Albrecht, S. 3.

8 Deutscher Museumsbund e. V. 2021, S. 96.

9 Habermas

10 Scholz, S. 165.

11 Das Konzept der Kontaktzonen bzw. contact zones geht auf Mary Louise Pratt zurück. Vgl. Pratt, Mary Louise (1992): Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation.

12 Kazeem/ al-Samarai/ Piesche 2009, S. 172.

13 Benjamin 1980, S. 697.

 

 

Literatur:

Albrecht, Julia: »Die koloniale Verstrickung des Weltkulturen Museums und ihre Relevanz für die Arbeit in Bildung und Vermittlung «. In: Endter, Stephanie / Landkammer, Nora / Schneider, Karin (Hg.): Das Museum als Ort des Verlernens. Materialien und Reflexionen zur Vermittlung am Weltkulturen Museum, 2018, online unter http://www.traces.polimi.it/wp-content/ uploads/2018/10/TR_WP3_The-museum-as-a-site_02.pdf

Benjamin, Walter (1980): Über den Begriff der Geschichte. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I-2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 691-704.

Castro Varela, María do Mar/ Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2., komplett überarbeitete und erweiterte Auflage, Bielefeld: transcript Verlag.

Conrad, Sebastian (2012): Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte. Erschienen auf: Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https://www.bpb.de/apuz/146971/kolonialismus-und-postkolonialismus (Letzter Aufruf: 15. Juli 2021).

Das Postkoloniale Museum. Online-Tagung, 13.-16.06.2021, Museum der Arbeit, Hamburg.

Deutscher Museumsbund e. V. (2021): Leitfaden. Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. 3. Aufl., Berlin: Deutscher Museumsbund e. V.

Hollenbach, Michael (2021): Dekolonisierung. Mission im Museum. Erschienen auf: Deutschlandfunk. URL: https://www.deutschlandfunk.de/dekolonisierung-mission-im-museum.2540.de.html?dram:article_id=492192 (Letzter Aufruf: 19.07.2021).

Hundertvierzehn: Das literarische Online-Magazin des S. Fischer Verlags. Fünf Fragen an Rebekka Habermas. URL: https://www.fischerverlage.de/magazin/interviews/fuenf-fragen-rebekka-habermas (Letzter Aufruf: 15. Juli 2021).

Kazeem, Belinda/ Al-Samarai, Nicole Lauré/ Piesche, Peggy (2009): Museum. Raum. Geschichte: Neue Orte politischer Tektonik. In: Belinda Kazeem, Charlotte Martinz-Turek, Nora Sternfeld (Hgg.): Das Unbehagen im Museum. Postkoloniale Museologien. Ausstellungstheorie & Praxis. Band 3. Wien: Verlag Turia + Kant, S. 167-184.

Scholz, Andrea (2019): Transkultureller Zusammenarbeit in der Museumspraxis: Symbolpolitik oder epistemologische Pluralisierung? In: Edenheiser, Iris/ Förster, Lairssa (Hg.): Museumsethnologie. Eine Einführung: Theorien, Debatten, Praktiken. Berlin: Dietrich Reimer-Verlag, S. 162-179.