Gaming im Museum – Interview mit den Good-Practicern des Kulturbrunchs Part 2/2

17.08.2022 Katharina Hauck

Dr. Paul-Moritz Rabe stellt das Projekt "Forced Abroad – Tagebuch eines Zwangsarbeiters" vor. Emad Daood © LWL-Medienzentrum für Westfalen

In unserem Kurzinterview-Artikel blicken wir auf den Kulturbrunch 2022 zurück. Dafür haben wir die Referent:innen unserer Good Practice-Projekte gebeten, uns bei der Veranstaltung im Mai offen gebliebene Fragen zu beantworten. Lisa Wong vom LWL-Museum für Naturkunde Münster, Anna Riethus aus dem Neanderthal Museum Mettmann, Dr. Paul-Moritz Rabe vom NS-Dokumentationszentrum München und Anja Hoffmann aus dem LWL-Industriemuseum Dortmund geben Einblicke in ihre spielerischen Vermittlungsformate. Den ersten Teil unserer Interviewreihe finden Sie hier.

Dr. Paul-Moritz Rabe zeigt einem Besucher des Kulturbrunchs das Game "Forced Abroad" auf einem Tablet. Emad Daood © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Forced Abroad – Tagebuch eines Zwangsarbeiters – Serious Game zur Geschichte der nationalsozialistischen Zwangsarbeit

Das Projekt „Forced Abroad – Tagebuch eines Zwangsarbeiters“ wurde gemeinsam vom NS-Dokumentationszentrum München und Paintbucket Games aus Berlin entwickelt. Es basiert auf dem Tagebuch des 19-jährigen niederländischen Zwangsarbeiters Jan Bazuin, der im Herbst 1944 Kriegsalltag und Hungerwinter in der von Deutschen besetzten Stadt Rotterdam erlebt. Dr. Paul-Moritz Rabe beantwortet unsere Fragen.

  • Das Serious Game wurde als Visual Novel umgesetzt, also als interaktives spielbares Buch. Dabei orientiert sich das Design der App an den Illustrationen der Zeichnerin Barbara Yelin, die auch das kürzlich veröffentlichte Tagebuch Jan Bazuins illustrierte. Welche Entscheidungen haben zu dem Grafikstil geführt? Was war Ihnen beim Design des Serious Games wichtig?

Dr. Paul-Moritz Rabe: Beide Projekte sind eigentlich zunächst unabhängig voneinander entstanden, aber nachdem das Game sich dann auf die Geschichte von Jan fokussierte und als Visual Novel umgesetzt werden sollte, lag es nahe, nicht unterschiedliche Bildsprachen zu verwenden. Viele Zeichnungen aus der Buchpublikation wurden als Grundlage für das Game wiederverwendet, mit technischer Hilfe angepasst und zum Leben erweckt, einige Zeichnungen sind noch neu entstanden. Barbara Yelins Zeichenstil eignet sich aus unserer Sicht besonders gut für die Vermittlung von historischen Stoffen und spricht Jugendliche genauso an wie Erwachsenen. Ihr „Strich ist ein Suchender“ hat sie mal gesagt. „Suchend“ sind stets auch die Versuche von Historikern Geschichte zu rekonstruieren. Es gibt nie ein eindeutiges Bild von der Vergangenheit, jede Geschichtsschreibung bleibt eine Annäherung. Auch Barbara Yelins Zeichnungen deuten manchmal nur an, wirken skizzenhaft, lassen Leerstellen zu. Dennoch hat sie den Anspruch, dass die Zeichnungen historisch plausibel daherkommen und auch entsprechend konkret. Wir haben viel Rechercheaufwand betrieben, damit auch Details wie die Kleidung oder Mobiliar auf den Illustrationen historisch plausibel gezeichnet sind.

  • Für welche Inhalte und welche Zielgruppen würden Sie eine Visual Novel empfehlen?

Dr. Paul-Moritz Rabe: Für uns hing die Entscheidung für das Genre der Visual Novel damit zusammen, dass die zugrundeliegende Quelle sehr textlastig war. Das Genre ist also auch als eine Referenz zu dem historischen Tagebuch zu verstehen. Wir hoffen, dass sich das Genre in besonderer Weise für die Vermittlung von historischen und dabei auch etwas schwierigeren Themen eignet. Der hohe Textanteil ermöglicht eine entsprechende Kontextualisierung und lässt auch Raum für die Komplexität und die Grauzonen von Geschichte. Trotzdem wird sehr deutlich, dass es etwas ganz anderes ist als ein Geschichtsbuch. Der „Nachteil“: Die Zielgruppe muss leseaffin sein, also mindestens 16 Jahre alt.

  • Obwohl das Spiel der realen Biografie folgt, können die Spieler:innen die Handlung mit ihren Entscheidungen beeinflussen. Ist das nicht historisch verfälschend? Worauf haben Sie inhaltlich verzichten müssen, um die Geschichte erzählbar zu gestalten?

Dr. Paul-Moritz Rabe: Die Handlungen sind nur in kleinem Stil beeinflussbar. Es gibt z.B. kein „Game over“, obwohl der Tod von Jan Bazuin durchaus ein realistisches Szenario gewesen wäre. Uns ging es aber weniger um spektakuläre Wendungen, auch nicht um gamebasiertes Learning. Das Game wird i.d.R. nur einmal gespielt werden und es soll durchgespeilt werden. Uns waren uns die kleinen alltäglichen Entscheidungen wichtig. Alle Entscheidungssituationen, vor denen User:innen stehen, sind historisch realistisch und daher alles andere als verfälschend. Im Gegenteil: Durch die Möglichkeiten, im kleinen Varianten durchzuspielen, wird auch deutlich, dass es eben nicht nur ein Einzelschicksal von Jan war. Die Erfahrungen von Zwangsarbeiter:innen waren zwar manchmal ähnlich, aber grundsätzlich auch sehr unterschiedlich. Wir haben auf einige historische Details verzichtet, die zu viel Vorwissen oder Kontextwissen bedürfen. Insgesamt ist die Handlung des Games stringenter als das Original erzählt, auch damit das Game in ca. 70-90 Minuten durchgespeilt werden kann.

  • Gamification und Zwangsarbeit: ein ungleiches Paar? Eignet sich grundsätzlich jedes Thema für die Vermittlung mit Hilfe digitaler Medien oder gibt es aus Ihrer Sicht Grenzen?

Dr. Paul-Moritz Rabe: Jein, nicht jedes, aber die meisten. Bei Gewalt gibt es Grenzen der Zumutbarkeit. Es soll niemand „überwältigt“ werden. In Forced Abroad haben wir nur sehr moderat Gewaltszenen dargestellt, teilweise erfährt sie nicht Jan selbst, sondern seine Mitinsassen.
 

Anja Hoffmann und Mike Kleist stellen das Projekt "Geheime Kammern des Wissens" beim Kulturbrunch 2022 vor. Emad Daood © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Geheime Kammern des Wissens – Sechs Escape Rooms in einer Museumsausstellung

Die „Geheimen Kammern des Wissens“ wurden vom LWL-Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund gemeinsam mit MysteryRooms aus München entwickelt. Konzipiert wurden Escape Rooms, die den Besucher:innen einen spielerischen Zugang zu den Museumsinhalten ermöglichen sollten. Die Spieler:innen wurden mit einem Tablet ausgerüstet, lösten Rätsel und knackten Codes, um die jeweils nächste Tür zu öffnen und sich auf den „Wegen des Wissens“ durch die Sonderausstellung zu spielen. Anja Hoffmann vom Industriemuseum und Mike Kleist von MysteryRooms haben unsere Fragen beantwortet.

  • Wie gestaltete sich die Verbindung von Analogem und Digitalen in der Konzeption von Ausstellung und Escape Room-Format?

Anja Hoffmann: Die Konzeption von sechs dezentralen Escape Rooms, die in die Ausstellung integriert waren, machten die Verbindung von Analogem und Digitalem zwingend notwendig. Das Tablet mit Spiele-App regelte den Spielfluss: Sie formulierte Aufgaben in der Ausstellung und in den Escape-Rooms, klärte falsche von richtigen Antworten, gab Tipps, verteilte Punkte. Besonders beeindruckend für die Gäste war die Einbindung von AR-Anwendungen per App für die Ausstellung, um sich den Zugang zum Escape Room zu erspielen. So konnten z.B. Vitrinen auch mit „unsichtbaren“ Exponaten bestückt werden, die erst mit der AR-Anwendung sichtbar wurden und Teil der Lösung für den Zugangscode zu einem der Escape-Rooms bildeten. Zudem konnten über das Tablet auch QR-Codes für das Anzeigen von Lösungen in Verbindung mit Exponaten angezeigt werden.

  • Haben Sie im Nachhinein das Gefühl, dass die Escape Rooms als integraler Bestandteil der Ausstellung oder als für sich stehendes Zusatzangebot wahrgenommen wurden?

Anja Hoffmann: Ich habe eindeutig das Gefühl, dass die Besucher:innen die Escape Rooms als integralen Bestandteil wahrgenommen haben. Allein der Blick von oben auf die Ausstellungsfläche, die die Integration der einzelnen Räume sichtbar machten, verstärkten den Eindruck.

  • Wie wurden die Ausstellungsinhalte über das Escape Room-Format an die Besucher:innen vermittelt? Welche spezifischen Learnings und Messages standen im Mittelpunkt?

Anja Hoffmann und Mike Kleist: Jede thematische Ausstellungseinheit hatte einen eigenen Escape Room und vermittelte in Variationen dieselben Kernbotschaften. Im Mittelpunkt stand immer die Diskussion, wie die Entwicklung moderner Gesellschaften maßgeblich davon beeinflusst wird, wie Wissen erlangt, geteilt und geschützt wird. Leitexponate oder Exponatgruppen in der Ausstellung boten mit Aufgabenstellungen und Rätseln die Zugangscodes. Meist wurde das Thema in den Escape Rooms handlungsorientiert und spielerisch variiert und mit zwei bis drei Aufgaben kombiniert. Durch das Leading mittels App konnten bestimmte Ausstellungsstücke gezielt angesteuert werden. Der spielerische Umgang mit den Objekten und die Fragen der Mission sorgten für eine involvierte Rezeption. Aufgrund der Variationen der Themen und Botschaften setzten sich Inhalte bei den Gästen fest. Das zeigte die an den Museumsbesuch anschließende Besucher:innenbefragung. Die spielerischen Variationen von Aufgaben und Schwierigkeitsgraden sowie die zwingende Teamarbeit förderten Kommunikations-, Urteils-, und Medienkompetenz.

Ein konkretes Beispiel: Eine Ausstellungseinheit beschäftigte sich mit der Frage, wie Wissen in Geschichte und Gegenwart geteilt wird. Sie zeigte u.a. Speichermedien wie Universallexika, Grammophonwalzen, Speicherchips und verglich dabei künstliche Speichermedien im Hinblick auf ihre Vor- und Nachteile. Dementsprechend war der dazugehörige Escape Room als Medienarchiv aufgebaut, indem sich die Medien aus der Ausstellung wiederfanden. Um sich den Zugang zum Medienarchiv zu erspielen, mussten sich die Gäste mit dem Leitexponat auseinandersetzen, einer gigantischen Bücherwand mit der 243-bändige Enzyklopädie des Universalgelehrten Georg Krünitz (1728-1796). In den aufgeschlagenen Lexika mussten sich die Gäste drei Begriffe erschließen, die in Kombination den Zugang zum Medienarchiv gewährten. Im Archiv selbst galt es die richtigen Speichermedien zu finden und zu nutzen wie Lexika, Videos, Audiokassetten, Computer und vor allem ein Microfichegerät. In der Erprobung der verschiedenen Speichermedien waren vor allem intergenerative Teams im Vorteil. Im Mittelpunkt standen die Vermittlung von Medienkompetenz und Vor- und Nachteile unterschiedlicher Speichermedien für den eigenen Gebrauch abzuwägen.

Mike Kleist von MysteryRooms spricht mit den Besucher:innen des Kulturbrunchs über Escape-Formate. Emad Daood © LWL-Medienzentrum für Westfalen
  • Wieviel Raum und Zeit nahmen die Escape Rooms in ihrer Konzeption insgesamt ein? Können Sie sich mit Blick auf Aufwand und Nutzen vorstellen, noch einmal ein Escape-Format zu realisieren?

Anja Hoffmann: Die Entscheidung für Escape-Rooms fiel im Team schon in der ersten Konzeptionsphase, nicht zuletzt auch aufgrund von Anregungen durch Kooperations- und Bildungspartnern aus dem Sektor Schule. Insofern wurde die Idee über den gesamten Konzeptionsprozess und Vorlauf von zwei Jahren kontinuierlich mitgedacht. Die eigentliche finale Planung und Umsetzung in Zusammenarbeit mit der Spieleentwicklerforma mystery rooms dauerte max. 6 Monate. Wichtigster Faktor war die Kommunikation der Schnittstellen zwischen Ausstellungsteam, Spieleentwicklung und Gestalter. Räumlich belegten die denzentralen Escape Rooms bei einer gesamten Ausstellungsfläche über zwei Etagen von ca. 1.000 qm rund zehn Prozent. Jeder der sechs Escape Rooms war zwischen 10 und 15 qm groß. Die Gestalter hatten hierbei eine wichtige Rolle, um eine platzsparende und gut praktikable Lösung zu finden.

  • Würden Sie ein derartiges Format auch kleinen Häusern mit geringer Ausstellungsfläche empfehlen?

Anja Hoffmann: Jein! Eins zu eins lässt sich das dezentrale Konzept der Escape Rooms aus „Alles nur geklaut?“ wahrscheinlich nicht auf Museen mit geringer Ausstellungsfläche oder kleinen museumspädagogischen Räumen übertragen. Da würde sich ggfs. doch ein einziger Raum als Escape Room anbieten, der vielfach nicht mehr als 20 qm benötigt. Aber es spricht auch nichts dagegen, die Idee der Dezentralität weiterzuentwickeln und mit z.B. Elementen des Geocachings, der Schatzsuche oder Schnitzeljagd zum Beispiel in der Umgebung zu kombinieren.

Mike Kleist: An sich sind Escape Game-Konzepte aber sehr variatiosreich: Ob als Multi-Room-Konzept wie im vorliegenden Beispiel, als Ein-Raum-Variante kombiniert mit Tablet Tour wie beim Sauerlandmuseum (Hexenverfolgung) oder ganz ohne Raum und als reine Tablet-Variante. Auch im Hinblick auf das Budget sind Escape Game-Konzepte sehr flexibel. Von einfachen smarten Challenges, die trotzdem ihr Ziel erreichen bis hin zu aufwendigen Installationen mit Wow-Effekten. Gleiches gilt auch für die Größe der Materialien und den Platzbedarf. Von Escape Room über Rätselmodule bis hin zu AR Konzepten, die gar keinen Platz benötigen. Escape-Formate können für jedes Museum geeignet sein, das seine Zielgruppe erweitern und den Besuchern ein spielerisches Erlebnis mit Lerneffekt bieten möchte.

 

Mit diesem Einblick hinter die Kulissen verabschieden wir uns nun endgültig vom Kulturbrunch 2022 und freuen uns auf spannende neue Impulse im nächsten Jahr!

 

 

Unseren Tagungsbericht über die komplette Veranstaltung können Sie hier nachlesen.